Von all den Zitaten, die zu diesem Jahreswechsel in Artikeln, Interviews oder auf Postkarten zu lesen waren, gefällt mir ein Gedanke besonders gut. Er wird der US-amerikanischen Autorin Zora Neale Hurston (1891-1960) zugeschrieben: „Es gibt Jahre, die stellen Fragen, und Jahre, die geben Antworten.“
Für mich war das Jahr 2023 in vielerlei Hinsicht ein Jahr der Fragen. Einige davon lauten so: Was passiert mit unserer Demokratie in Deutschland? Wie ist der Rechtsruck in der Gesellschaft zu erklären? Wie der Antisemitismus? Was haben wir übersehen? Aber auch: Wie gelingt es uns, den Klimawandel zu stoppen und dabei die Menschen nicht zu überfordern? Wie stärken wir eine konstruktive Diskussionskultur? Was bedeutet gute Bildung heute? Wie kann ein Friedensprozess in der Ukraine und im Nahen Osten aussehen?
Und noch manche Frage mehr wäre zu nennen.
Einige Antworten finde ich an den Hochschulen und Forschungsreinrichtungen im Land.
Mit Blick in die Zukunft: Wissenschaft und Forschung im Land
Seit fast anderthalb Jahren bin ich nun Ministerin für Wissenschaft, Forschung und Kunst. Und meine Gespräche an den Universitäten und Hochschulen mit den Rektorinnen und Rektoren, den Professorinnen und Professoren, mit den Studierenden zeigen mir, wie viele engagierte und mutige Menschen es gibt, die an konstruktiven Lösungen für die Aufgaben unserer Zeit arbeiten. Dabei bleibt für mich von zentraler Bedeutung, dass Wissenschaft und Forschung in erster Linie frei denken und arbeiten heißt. Genau aus dieser Freiheit entstehen Antworten.
Dass wir im Land dabei erfolgreich sind, zeigt unter anderem die aktuelle Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft, die Baden-Württemberg aufgrund seiner Forschungskraft nach Kalifornien und Massachusetts auf Platz drei der innovativsten Regionen der Welt listet.
Dabei ist mir wichtig, Innovation nicht nur technisch zu verstehen, sondern auch als gesellschaftliches Potenzial.
Einige Schwerpunkte meiner Arbeit aus dem letzten Jahr:
- Beim „Strategiedialog Gesundheit“ haben wir 2023 die Landesstrategie zur Stärkung der medizinischen Translation gestartet. Das bedeutet: Stärkung der interdisziplinären Aktivitäten zur Umsetzung von Forschung in die Anwendung. Damit gelangen neue Forschungserkenntnisse zum Beispiel in Form von neuen Therapien noch schneller in die Krankenversorgung und gleichzeitig steigern wir die Wettbewerbsfähigkeit unserer Gesundheitsforschung und -wirtschaft.
- Mit der neue Luft- und Raumfahrtstrategie des Landes AerospaceLÄND bündeln wir seit diesem Jahr Forschungsaktivitäten und Initiativen. Ein bedeutendes Ziel der Strategie: Die Luft- und Raumfahrt soll möglichst bald klimaneutral werden.
- Auch im Bereich der Quantentechnologie binden Universitäten, Forschungseinrichtungen, Konzerne und Start-ups in der Innovationsoffensive QuantumBW ihre Kompetenzen zusammen. Baden-Württemberg ist im Bereich der Quantensensorik führend. Die Quantensensorik ermöglicht beispielsweise extrem genaue Messungen in Bereichen wie Magnetismus, Gravitation oder Temperatur. All das brauchen wir für neue Technologien in Bereichen wie Klimaschutz oder Gesundheit.
- Auch internationale Kooperationen sind uns mit Blick auf Zukunftstechnologien wichtig: Mit Katalonien und Andalusien haben wir auf einer Reise im Herbst die Kooperation im Bereich grüner Wasserstoff gestärkt. Denn grüner Wasserstoff ist als Energiespeicher ein wichtiger Baustein für die Energiewende. Andalusien hat sehr viele Möglichkeiten für die Erzeugung von Wasserstoff. Katalonien ist als starker Wissenschafts- und Innovationsstandort ein attraktiver Partner. Gemeinsame Forschung und gezielte Zusammenarbeit bei der Qualifizierung der dringend benötigten Fachkräfte können uns gemeinsam noch weiter voranbringen, eine ambitionierte Wasserstoffwirtschaft zu etablieren.
- Im November haben wir beschlossen, die grenzüberschreitende Kooperation EUCOR – The European Campus weiter auszubauen. Beteiligt sind: Baden-Württemberg, Schweiz und Frankreich. Gemeinsame Studiengänge und Studienabschlüsse, aber auch Forschungsverbünde über die Grenzen hinweg, sind das Ziel.
Nicht zuletzt verstehe ich das Wissenschaftsministerium auch als Bildungsministerium. Daher legen wir nicht nur einen Schwerpunkt auf die Bildung von Studierenden an unseren Hochschulen, sondern auch auf den Bereich Weiterbildung. Dies zusammen mit dem Kultusministerium und dem Wirtschaftsministerium in der Weiterbildungsoffensive WEITER.mit.BILDUNG@BW. Zugleich prüfen wir zusammen mit dem Kultusministerium derzeit, wie wir das Lehramtsstudium attraktiver gestalten und mehr Studierende dafür gewinnen können. Siehe auch: die Kampagne @lieber_lehramt. Aktuell planen wir, 2024 mit einem Dualen Master zu starten, der sich an Studierende der mathematisch-naturwissenschaftlichen (MINT-)Fächer richtet, die bisher nicht auf Lehramt studieren. Vielleicht ist das eine der Antworten auf meine Frage, wie Bildung heute aussehen kann.
Verständnis für die Gegenwart aus dem Wissen um die Vergangenheit
Mit Sorge blicke ich auf die Konflikte, die wir als Gesellschaft zurzeit austragen. Diskriminierung, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus treten offener als bisher zutage. Das bedeutet unter anderem: Wir müssen die Grundlagen und die Systematik von Rechtsextremismus besser verstehen und sichtbar machen. Das machen die Ergebnisse vom Untersuchungsausschuss „Rechtsextremismus / NSU BW II“ in der letzten Wahlperiode sowie die diesjährige Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zu Rechtsextremismus in Deutschland mehr als deutlich. Deshalb haben wir an der Universität Tübingen eine Forschungsstelle Rechtsextremismus eingerichtet. Die Professuren werden aktuell besetzt. Ein Schwerpunkt soll dabei auch auf dem Forschungsfeld Antisemitismus liegen.
Denn, die letzten Monate haben es gezeigt: Wir müssen weiterhin eine intensive Erinnerungskultur pflegen, Antisemitismus entschlossen bekämpfen und jüdisches Leben als gemeinsamen Teil unserer Kultur begreifen. Das wurde sowohl bei der Feierstunde „20 Jahre Stolpersteine für Stuttgart“ am 15. Oktober als auch bei dem beeindruckenden Rundgang im September durch das Hospitalviertel und einem Besuch in der Synagoge und dem Jüdischen Gemeindezentrum mit Muhterem Aras, Winne Hermann, Oliver Hildenbrand und vielen grünen Mitgliedern klar.
In einigen Debatten wird aktuell ein Widerspruch zwischen dem Kampf gegen Antisemitismus und der Aufarbeitung unserer kolonialen Vergangenheit aufgemacht. Ich kann das nicht erkennen. Beide Seiten haben unsere Geschichte geprägt und mit beiden Seiten müssen wir uns nicht nur auseinandersetzen, sondern ihre Folgen für unsere Gegenwart verstehen. Daher arbeiten wir im Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst intensiv an der Aufarbeitung der kolonialen Geschichte unserer Institutionen. Besonders bewegend war 2023 die Rückgabezeremonien von „Human Remains“, von menschlichen Überresten, von Vorfahren – „Tūpuna“ – der Māori und Moriori aus Neuseeland und Ahnen indigener Hawaiianer und Hawaiianerinnen. Beide Zeremonien fanden in Stuttgart statt – einmal im Linden-Museum, einmal im Naturkundemuseum.
In den vergangenen Monaten ist überdies deutschlandweit erhoben worden, wie viele „Human Remains“ in staatlichen Sammlungen noch zu finden sind. Zum Jahreswechsel wird das Ergebnis veröffentlicht. Auch in Baden-Württemberg liegen insbesondere in den Universitätssammlungen Freiburg und Tübingen zahlreiche „Human Remains“, deren Herkunft aufgearbeitet werden muss, damit eine Rückkehr möglich wird.
Die Stadt im Blick: Vor Ort im Gespräch
Endlich konnten in Stuttgart und in meinem Wahlkreis auch viele Stadtfeste wieder stattfinden – die beste Gelegenheit für Austausch und Begegnung. Besonders faszinierend war für mich das Kübelesrennen auf dem Cannstatter Marktplatz. Als ich selbst zum ersten Mal im Kübel gesessen bin, habe ich erst gemerkt, was für eine Kugelfuhr das im wahrsten Sinne des Wortes ist. Aber auch das Maibaumfest in Wangen, die Weinwanderung in Untertürkheim und der Volksfestumzug vom Cannstatter Kursaal auf das Wasengelände waren wunderbare Gelegenheit des miteinander Feierns.
Ich denke mit Freude an die Führung und den intensiven Austausch im Naturkundemuseum Schloss Rosenstein. Meiner Einladung sind im Frühjahr viele interessierte Bürgerinnen und Bürger gefolgt, und gemeinsam haben wir mit der Leitung des Teams des Naturkundemuseums die neue Dauerausstellung besucht. Wieder einmal konnten wir sehen, was für eine zentral wichtige Arbeit das Naturkundemuseum mit seinen Ausstellungen, aber auch mit seiner Forschung leistet, um mehr Menschen für Artenvielfalt und Naturschutz zu sensibilisieren.
Das vergangene Jahr – es war das heißeste Jahr seit Beginn der Wetteraufzeichnung – hat zudem wieder einmal deutlich gemacht, wie wichtig der Klimaschutz, aber auch Klimaanpassung für unser Leben in den Städten ist. Wie wir bauen und wie lange wir Gebäude nutzen, hat deutliche Auswirkungen auf den CO2-Ausstoß und ist somit für ein klimaneutrales Leben wichtig. Gemeinsam mit Andreas Hofer (Intendant der Internationalen Bauausstellung IBA 2027) habe ich beim zweiten Ideenfest der grünen Stuttgarter Landtagsabgeordneten ‚Stuttgart im Wandel‘ im Hospitalhof darüber gesprochen, welche Best-Practice-Modelle es gibt, um nachhaltiger, klimaschonender und zeitgemäßer zu bauen.
Wie schön und sinnvoll Lösungen aussehen können, habe ich im Sommer mit Umweltministerin Thekla Walker MdL und Baubürgermeister Peter Pätzold im neuen Stadtteil ‚Neckarpark‘ sehen können. Die Pläne der Stadt sind an dieser Stelle vorbildhaft, was Wärmegewinnung, den Einsatz von Photovoltaik und Dachbegrünung, aber auch den ressourcenschonenden Umgang mit Wasser angeht.
Und auch 2023 war ich wieder am Stuttgarter Hafen. Diesmal stand die klimafreundliche Logistik im Fokus.
Optimistisch stimmen mich oft Begegnungen mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Wahlkreis. Viele junge Menschen bringen sich ehrenamtlich für die Gesellschaft ein. Beeindruckt hat mich das Gespräch mit Vertreterinnen und Vertretern des Stuttgarter Projekts Respektlotsen. Hier engagieren sich junge Menschen, indem sie auf der Straße für ein respektvolles Miteinander werben. Bei meinem Besuch im Jugendhaus habe ich gesehen, wie junge Menschen sich gegenseitig stärken, wie sie miteinander und voneinander lernen. Das macht Mut!
Meine Ausstellung des Jahres in Stuttgart: „Sieh Dir die Menschen an!“ im Kunstmuseum (läuft noch bis 14.April 2024).
Und zuletzt: Ein besonderes Ereignis für mich persönlich war in diesem Herbst die Vorstellung des Buchs „John Cranko – Tanzvisionär“, an dem ich zusammen mit Julia Lutzeyer, Angela Reinhardt und Vivien Arnold seit langem gearbeitet habe. Ich bin dem Stuttgarter Ballett sehr dankbar, dass es 50 Jahre nach Crankos Tod jetzt erscheinen konnte – und dass es so schön geworden ist.
Jetzt erstmal: Kräfte sammeln
Es ist viel passiert in diesem Jahr.
Auch für das neue Jahr habe ich mir zusammen mit meinem Team – Jama Maqsudi, Alexandra Meyer, Meike Reisle – viel vorgenommen. Die Europa- und Kommunalwahlen im Sommer werden wichtige Zeichen setzen, wie es politisch und gesellschaftlich hier vor Ort und international weiter geht.
Doch in den kommenden Tagen geht es vor allem erst einmal darum: Kräfte zu sammeln, durchzuatmen, lange Spaziergänge zu machen, Bücher zu lesen, Filme zu schauen, Freunde zu treffen, lange Gespräche zu führen. Fragen zu stellen. Und Antworten zu finden.
In diesem Sinn: Herzlichen Dank für die Unterstützung von so vielen von Ihnen und Euch; Dank für Rückmeldungen, Anregungen, Besuche im Wahlkreisbüro, für Begegnungen, Aufmunterung, für faire Kritik.
Ihnen und Euch allen wünsche ich einen guten Start in das neue Jahr!
Ihre und Eure
Petra Olschowski
Dezember 2023